· 

Fassungslos

Vor ein paar Tagen in Prag: Ich stehe mit meinem Mann und unseren Töchtern in der Pinkas-Synagoge. Wir hören Namen. Namen, Namen und nochmals Namen. Namen jüdischer Bürger der Tschechoslowakei, die während des Holocausts ermordet wurden. Diese Namen - fast 78.000 - sind auch an den Wänden der ehemaligen Synagoge, die heute ein Museum ist, zu lesen. Unsere Augen und unsere Herzen haben Probleme, die unfassbare Anzahl menschlicher Schicksale zu fassen. Ich bleibe an vier Namen hängen. Josef und Greta, beide ein ganzes Stück jünger als ich, und ihre Kinder Eva, 8 und Jiří, 2 Jahre. Keine anonymen Daten, sondern eine kleine Familie mit einer Geschichte, mit Hoffnungen und eigentlich hätten sie eine Zukunft haben sollen. Haben müssen.

 

Einen Raum weiter sind Kinderbilder ausgestellt, die 1942 und 1944 im Ghetto Theresienstadt entstanden. Die meisten der Kinder wurden später im KZ Auschwitz ermordet. Die Bilder sind beklemmend. Ihr Anblick hat mir schon das Herz zerrissen, als wir vor über zwanzig Jahren das erste Mal in Prag waren. Ebenso wie das Foto einer nackten jungen Frau, die - notdürftig ihre Brüste bedeckend - von einem Uniformierten vor sich her geschubst wird. 

In meinem Kopf laufen schreckliche Filme ab. Aber es waren keine Filme. Es war unfassbar grausame Realität. Unsere Töchter hören, sehen und schweigen erschüttert. Lina macht eine Bemerkung, wie schlimm es für die Eltern gewesen sein muss, ihre Kinder solche Bilder malen zu sehen. Ich spüre einen dicken Kloß im Hals und verkneife mir Tränen. Ich will mir nicht vorstellen, wie es mir als Mutter gegangen wäre. Und ich stelle es mir doch vor. Es gibt keine Worte dafür. 

 

Wir besichtigen an diesem Tag weitere Synagogen und den bekannten alten, jüdischen Friedhof von Prag. Im Stadtviertel Josefov essen wir Hummus, Hähnchen und unfassbar leckeres Brot. Am Nachmittag wollen wir Tretboot auf der Moldau fahren. Urlaub machen eben. Die Geschichte, gerade noch so nah und erschütternd, tritt wieder in den Hintergrund. Es ist in Ordnung so. Denn der Riss wird bleiben. Die Erinnerung, die Betroffenheit und das ganz tief empfundene Wissen, dass so etwas nie, nie wieder passieren darf. Es ist in unseren Köpfen und Herzen verankert.

 

 

Seit Samstag sind wir wieder zurück.

 

Jenem Tag, an dem hunderte von Menschen in Berlin die Absperrung vor dem Reichstagsgebäude durchbrachen und ihren Protest gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie zum Ausdruck brachten. Menschen aus allen möglichen Gruppierungen. Unter ihnen sogenannte Reichsbürger und Rechtsradikale, denen die Menge an Mitläufern (hier im wahrsten Sinne des Wortes) einen großen Auftritt bescherte. 

 

Ich begreife es nicht. Ja, wir sind eine Demokratie und jeder Mensch darf öffentlich seine Meinung kundtun, ohne Sanktionen befürchten zu müssen. Das ist richtig und wichtig. Ich habe auch kein Problem damit, dass es unterschiedliche Ansichten und Meinungen gibt. 
Aber es läuft mir eiskalt den Rücken herunter, wenn ich sehe, wem die Menschen sich da anschließen, die von sich behaupten, keine rechtsradikale Gesinnung zu haben. Wer die Augen und Ohren aufmacht, sieht und hört, welche Gruppierungen da unterwegs sind. 

 

Schon im Dritten Reich waren die Nationalsozialisten sehr geschickt darin, Menschenmengen zu manipulieren und so für ihre Zwecke zu gewinnen. Man zeigte sich solidarisch im Angesicht einer angespannten wirtschaftlichen Lage. Bot Jugendtreffs und Sportangebote. Hob das mangelnde Selbstwertgefühl und schuf dann subtil ein gemeinsames Feindbild. 

 

Kann es wirklich sein, dass es heute wieder so läuft?

 

Wenn ihr gegen Masken und Abstandsregeln seid, kann ich euch zwar nicht wirklich verstehen, habe aber auch kein Problem damit, dass ihr eurer Meinung Ausdruck verleihen wollt. Macht das ruhig. Aber dafür gibt es doch andere Wege. Lasst euch doch nicht vor den Karren von Rechtsradikalen spannen! 

 

Hört und seht mal hin, wenn diese Leute ihre Hasstiraden schwingen. 

 

Hört und seht hin! "Wer Ohren hat, zu  hören, der höre." (Mt. 11,15)

 

Josef und Greta, Eva, 8 und Jiří, 2 Jahre ...

 

Wehret den Anfängen!

Kommentar schreiben

Kommentare: 3
  • #1

    Rosi. (Freitag, 11 September 2020 13:05)

    Dein Artikel ist mir so unter die Haut gegangen!
    Recht hast du und ich hoffe, dass viele diesen lesen und dankbar sein können bis jetzt in einer behüteten Welt zu leben.

  • #2

    Mutti (Freitag, 11 September 2020 18:50)

    Ich gestehe, dass ich erst gestern zum lesen gekommen bin.
    Ich gebe auch zu, dass mir die Tränen gelaufen sind.
    Prag: da musste ich wieder daran denken, als wir mit dir, du warst 5 Jahre, in die Hohe Tatra gefahren sind. In Prag mussten wir vom unteren in den oberen Bahnhof und fragten eine ältere Dame nach dem Weg. Sie schüttelte den Kopf und ging weiter. An der nächsten Straße hatte sie uns eingeholt und sprach uns an. Sie hatte sich geschworen, nie wieder ein Wort deutsch zu sprechen, die Nazis hatten ihre Familie ausgelöscht.
    Aber sie sah uns, die nach dem Krieg geboren sind, mit Kind, und meinte, ihr könnt doch nichts dafür.
    Wir waren erschüttert und haben wir uns sehr über die Geste des Vergebens gefreut.
    Vergeben ja, aber niemals vergessen.

  • #3

    Maria (Samstag, 21 November 2020 13:01)

    Hallo, dein Beitrag ist berührend und so wahr! Wir müssen alle aufpassen, dass nicht eine neue Welle der Ausgrenzung und Hass sich bildet.. Ich war selbst im Prag und in Kraków. Wir haben in Kraków eine Führung gehabt... ich war genauso geschockt und berührt von der Geschichte der Stadt und das Leben der Menschen darin. Unglaublich und wir wissen dass das so war - ja, das muss unter die Haut gehen!