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Halbzeit

 

Am Wochenende war Sommersonnenwende. Mitsommer. Nicht nur in Schweden werden Blumenkränze geflochten und Kräuter gesammelt. Mancherorts gibt es Sonnwendfeuer. Besonders mutige Zeitgenossen springen symbolisch über's Feuer - von einer Jahreshälfte in die andere. Es ist tatsächlich Halbzeit in diesem verrückten Jahr 2020. 

 

Im Januar, als alles noch danach aussah, als würde uns ein ganz normales Jahr erwarten, haben Thilo und ich uns damit beschäftigt, ein Wort zu finden, das uns über die kommenden 365 Tage begleiten sollte - als Herausforderung, Aufgabe, Ermutigung. Es wird empfohlen, sich spätestens nach sechs Monaten mal wieder genauer mit diesem Wort und seiner Bedeutung auseinanderzusetzen. Damit es sich nicht, wie so mancher Neujahresvorsatz, einfach in Alltagsstaub auflöst. Das Resümee eines halben Jahres. Beim Nachdenken geriet mein Wort des Jahres immer mehr in den Hintergrund. Es ist ja bisher doch ein ziemlich verrücktes Jahr. Ich glaube, es ist einen Rückblick wert. Machst du mit?

 

 

Eine Lücke im Lebenslauf gab es nicht direkt. Wenn ich mir unseren Terminkalender seit Mitte März so ansehe, sind da aber etliche Lücken entstanden. Im April war zum Beispiel ganz dick "Konfirmation" zu lesen, im Mai sollte ich bei einem Frauenfrühstück als Referentin aus meinem Buch "Stroh zu Gold" lesen. Sophia wäre im März zu ihrer Austauschschülerin nach Bordeaux gefahren und hätte kurz darauf Gegenbesuch von ihrer polnischen Austauschschülerin bekommen. In den Osterferien wollten die Mädels ihre Freundinnen in NRW besuchen. Alle Basketballtermine (Training, Spiele und Turniere) wurden abgesagt. Auch die Fahrschule für die Große lag kurz nach Beginn erstmal auf Eis. Es gab keinen Klavierunterricht für Lina. Physiotherapie wurde genauso auf unbestimmt verschoben wie der Termin beim Kieferorthopäden. Und es geht weiter. Lina wird nicht mit den Großeltern in See stechen und Sophia nicht als Betreuerin auf der Kinderfreizeit im Einsatz sein. Die indische Austausschülerin von Lina kommt frühestens im Oktober (geplant war Juli) und einen Termin für den Gegenbesuch gibt es noch nicht mal. Stattdessen steht ab und zu "Zoom-Meeting", "Jitsi-Meeting" oder "Teams-Konferenz" im Kalender. Begriffe, die mir vor Mitte März schlichtweg nichts gesagt haben. 

 

Es scheint, als wäre ganz viel weggefallen, als gäbe es ganz viel Minus in diesem verrückten ersten Halbjahr 2020. Ziehe ich also eine Negativbilanz?

Aber ...

… da gibt es auch die andere Seite und ich möchte fast behaupten, dass sie das Gleichgewicht auf der Balkenwaage wieder herstellt. 

 

 

Abgesehen davon, dass ich im Januar und Februar - als Corona noch eine seltsame Krankheit, aber Gott sei Dank ganz weit weg war - richtig schöne Zeiten in Gemeinschaft erlebt habe, gibt es auch seit März viel Wertvolles, was ich auf die Plusseite der Waage legen kann.

  • Ich habe seit Jahren nicht mehr so viel gelesen. Das liegt nicht etwa daran, dass sich meine Arbeit besonders reduziert hätte (sie hat sich vielmehr verändert), sondern am Wegfallen von Fahrdiensten, Freizeitstress und anderen regelmäßigen Verpflichtungen.
  • Wir hatten das seit Jahren schönste und am bewusstesten gefeierte Osterfest als Familie. 
  • Schon seit gefühlten Ewigkeiten wollen wir in der Schule Digitalisierung voranbringen und lechzen nach der erforderlichen technischen Ausstattung. Jetzt ist die Notwendigkeit wohl auch in der letzten Instanz angekommen. Und nebenbei haben sich eine Menge Kolleginnen online weitergebildet. 
  • Thilo, die Mädels und ich werden uns - nachdem der Sommerurlaub 2020 kleiner ausfällt als sonst - nächstes Jahr einen besonderen Urlaub gönnen. Vorfreude, schönste Freude!
  • Wir wussten, dass sich unsere Töchter gut verstehen und waren schon immer dankbar dafür. Während des Lockdowns hat sich das nochmal bestätigt. Diese Schwesternbeziehung ist wirklich etwas ganz Besonderes. Das macht uns als Eltern richtig glücklich. 
  • Ich habe die Ruhe und den Wald wieder neu für mich entdeckt. Da bin ich nicht die Einzige, was die Sache mit der Ruhe im Wald wieder etwas relativiert, aber es tut trotzdem gut.
  • Kleine Zeichen der Freundschaft sind besonders schön, wenn man sich längere Zeit nicht sehen kann. An meinem Geburtstag habe ich kaum die Tür geöffnet, ohne das eine Kleinigkeit auf der Treppe lag und mir zeigte, dass meine Freunde an mich denken, auch ohne Feier. 
  • Die Mädels haben während des Lockdown das Kochen und Backen wiederentdeckt und entlasten mich jetzt regelmäßig an meinen langen Arbeitstagen. Ich hoffe einfach mal, dass das so bleibt. 

Garantiert habe ich noch etwas vergessen. Seit ich damit begann, über die Plusseite der Balkenwaage nachzudenken, sind mir so viele wohltuende Momente und Gründe zur Dankbarkeit eingefallen. Das heißt natürlich nicht, dass es die andere Seite nicht auch gäbe. Aber sie überwiegt bei Weitem nicht. Mir gefällt das Bild der Balkenwaage. Hast du Lust, dir deine mal genauer anzugucken?

 

 

Die Postkarte mit dem Bulli ist übrigens von AnnelisArtDE (unbezahlte Werbung).

 

Und hier noch ein Buchtipp:

Wie schon erwähnt, habe ich in den letzten Monaten viel gelesen. Von Romanen über Krimis und Sachbücher war alles dabei. Ein Buch möchte ich euch gerne ans Herz legen (unbeauftragte Werbung). Obwohl es ziemlich unaufgeregt und eher leise daherkommt, hat es mich von Anfang bis Ende gefesselt. 

 

Raynor Winn: "Der Salzpfad"

Nachdem Moth und Raynow Winn, Anfang fünfzig, unverschuldet ihr Haus und damit auch ihre Arbeit verlieren und Moth zudem noch eine niederschmetternde ärztliche Diagnose erhält, begeben sich die beiden nur mit Rucksack und Zelt auf eine Wanderung entlang des South West Coast Path, Englands bekanntesten Küstenweg. "Mit einem Mal ist ihr Zuhause immer nur dort, wo sie gerade sind. Sie begegnen Vorurteilen und Ablehnung, doch zugleich entdecken sie das Glück ihrer Liebe und lernen, Kraft aus der Natur zu schöpfen. Allen Widrigkeiten zum Trotz öffnet ihr mehrmonatiger Trip die Tür zu einer neuen Zukunft."

 

In nächster Zeit komme ich eher nicht zum Lesen und wohl auch nicht zum Bloggen. Die Abschlussprüfungen an meiner Schule stehen an. Morgen geht es mit den schriftlichen los, am Donnerstag und Freitag folgen die mündlichen. Im Juli prüfe ich dann zwei Wochen lang durchgehend an jedem Tag. Wundert euch also bitte nicht, wenn es still hier wird. Ende Juli lesen wir uns wieder. Versprochen. Bis dahin, bleibt gesund, lest schön und genießt das Leben!

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