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"Je kaputter die Welt da draußen ..."

 

Einmal im Monat bloggen, das müsste doch drin sein. So hatte ich mir das vorgestellt, als ich mich entschloss, die Herausforderung Schulleitung anzunehmen. Zumal mir das Schreiben, wenn ich denn mal ausreichend Zeit gefunden und mich dann noch dazu aufgerafft habe, unwahrscheinlich gut tut. Naja, die Realität sieht ein bisschen anders aus, aber - hey - hier sitze ich und schreibe. 

 

Was außer Schule bewegt mich momentan? Mir geht es vermutlich nicht anders als euch da draußen. Ich rege mich über die Fußball-WM in Katar auf, bin sprachlos angesichts der Brutalität im Iran, lese davon, dass der Katastrophenschutz mit Stromabschaltungen im Winter rechnet und frage mich, wie es wohl gerade in den Flüchtlingslagern dieser Welt aussieht. Ich schwanke zwischen Verzweiflung und Hoffnung und empfinde in all dem eine unwahrscheinlich große Dankbarkeit, die fast schon an ein schlechtes Gewissen grenzt. Unsere Öltanks sind voll, das finanzielle Einkommen gesichert, wir leben so weit von Kriegsgebieten entfernt, dass sich keine Flugabwehrrakete in unsere Nähe verirren und Menschen töten kann. 

 

Ich werfe einen Blick aus dem Fenster. Heute Nacht hat es das erste Mal in diesem Winter geschneit. Weiche, weiße Flocken fallen noch immer tanzend vom Himmel und legen sich sanft auf Wege und Dächer, decken alles zu, dämpfen Geräusche. Ein kleines bisschen Weihnachtsstimmung schleicht sich in dieses Totensonntagswochenende. Und in einer Zeitschrift lese ich Zeilen von Reinhard Mey: "Je kaputter die Welt da draußen, desto heiler muss sie zu Hause sein." 

 

 

Diese Zeilen treffen mich ins Herz, sinken ganz tief in meine Seele und erzeugen Resonanz. Da war doch noch etwas. Ein paar andere Zeilen, in denen ich mich erst kürzlich so wiedergefunden hatte. In Anne Gorges wunderbarem Buch "Wir feiern uns durchs Jahr". Beim St. Martins-Kapitel unter "Kleine Laternen in dunkler Nacht" las ich: "Ich glaube, wenn Jesus heute leben würde, würde er sagen: 'Ihr seid die Laternenträger dieser Welt. Und ich bin euer Licht. Es ist egal, wie klein oder schwach du dir vorkommst, wie kalt und zitternd deine Hände sind, wenn du kommst, zerbricht die Dunkelheit. Denn in dir brennt mein Licht.' ... Laternen müssen durch die Straßen getragen und in die Fenster gehängt werden, auch wenn es dort draußen ganz schön kalt und ungemütlich ist. Laternen sind dafür gemacht, das Licht in die Dunkelheit zu tragen und unsere Straßen ein bisschen heller zu machen."

 

 

Das ist es, was ich tun will. Ich will meinen - wenn auch noch so kleinen - Teil dazu beitragen, ein wenig mehr Licht und Wärme in die Welt zu bringen. Eine Kerze im Fenster, die willkommen heißt. Eine Taschenlampe, die den Weg leuchtet. Eine selbstgebastelte Laterne, die jemandem ein Lächeln ins Gesicht zaubert. Ein Lagerfeuer, an dem man sich wärmen und gegenseitig Geschichten der Hoffnung erzählen kann. Ich will das tun, wenn ich abends auf dem Nachhauseweg meine Tochter in Hildesheim anrufe und frage, wie es in der Uni war, ob sie heute Abend Basketball spielen geht und ob mit dem Wäschewaschen alles geklappt hat. Ich will das tun, wenn ich zu  Hause ankomme und die Jüngste begrüße, einen Cappuccino mit ihr trinke und über Schulaufgaben, die letzte Gesangsstunde und das Leben einer Sechzehnjährigen quatsche (also das, was sie mir erzählen möchte). Ich will das tun, wenn ich meinem Mann einen Begrüßungskuss gebe und wir nach einem langen Arbeitstag irgendwie gemeinsam ein Abendessen auf den Tisch bringen. Und ich will das in meiner Schule tun. Mir Zeit für Gespräche mit Kollegen nehmen, nachfragen, wie´s den Kindern geht, was der gesundheitliche Zustand nach der überstandenen Coronaerkrankung macht. Mich beim Hauswirtschaftsteam bedanken, dass die Brezen bei der letzten Lehrerkonferenz so lecker waren und wie schön die Pflanze aussieht, die seit kurzem im Eingangsbereich steht. Und ein offenes Ohr für die Schüler*innen haben. Die ganz Stillen und die sehr Lauten, Fordernden. Mir, wo immer es geht, außerhalb des Unterrichts Zeit für sie nehmen. Tief durchatmen, wenn mich jemand an meine Grenzen bringt und versuchen, ihn mit seiner Persönlichkeit, seiner Geschichte, seinen Möglichkeiten und Grenzen anzunehmen. Ihm seine Stärken vor Augen zu führen und ihm Möglichkeiten zu geben, diese zu leben. 

 

Ja, das klingt ein bisschen unrealistisch. Und ich bin weit entfernt davon, das alles jeden Tag so umzusetzen. Aber, wenn es ab und zu gelingt und ich Feuer, Licht, Wärme weitergeben kann und wenn das jeder im Rahmen seiner Möglichkeit tut, dann wird das ein einzigartiger Laternenumzug. Mit großen und kleinen Lichtern, Wunderkerzen und LEDs, Taschenlampen und Fackeln. Wenn der Wind mein Licht ausbläst, die alte Angst vor der Dunkelheit in mir hochkriecht, mein Kopf dröhnt und ich mich unendlich müde fühle, läuft irgendjemand ein Stückchen mit mir, leuchtet mir den Weg und, wenn ich so weit bin, kann ich meine Kerze an seiner neu entzünden. Wir gehen gemeinsam unseres Weges und am Schluss sitzen alle um ein großes Lagerfeuer. Ach, das wird schön!

 

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Kommentare: 3
  • #1

    Frank Hardy (Samstag, 19 November 2022 16:39)

    Hej, liebe Nicole!
    Irgendwie war ich mal auf einen Link zu deinem Blogg gestoßen (vielleicht bei Jan Frerichs Lagerfeuer?) und lese deine Texte immer wieder gern und mit Nachdenken.
    Nein, du solltest auf jeden Fall damit weitermachen, denn du hast einen angenehmen Schreibstil! (Genau wie in eurem Jahreszeitenbuch...)
    Und dann warte ich immer auf den "christlichen Impuls" in deinen Texten, und wie denn der liebe Gott (und Göttin) darein kommt. Nein, dad meine ich nicht ironisch. Das ist für mich ein bißchen wie das Sahnehäubchen auf dem Kuchen!!
    Also: viel Mut und Inspiration wünsche ich dir !

  • #2

    Dorothea Leder (Montag, 21 November 2022 09:14)

    Danke, wie gut mit einem solchen text in die arbeitsreiche Woche zu starten. Danke und ich wünsche Dir das andere auch für dich ein Licht bereithalten. Liebe Grüße Doro

  • #3

    annette (Montag, 21 November 2022 18:45)

    ich danke dir liebe nicole....gerade heute ist so einer dieser atge.....ich sauge deinen post auf wie einen schwann und fühle mich gesehen und kann so die anderen mit ihren nöten auch wieder sehen....
    sei herzlichst umarmt und gesegnet
    annette