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Distanzunterricht - Die andere Seite der Bildungskatastrophe

 

Gestern saß ich in einem ruhigen Moment auf dem Sofa und habe mir die Instagram-Story einer Followerin, Erziehungswissenschaftlerin von Beruf, angesehen. Sie nahm Stellung zu der Aussage eines Bildungsforschers in einem Spiegel-Gastbeitrag, der angesichts des pandemiebedingten Distanzunterrichts von einer Bildungskatastrophe sprach, und riet zu Gelassenheit. Der Autor des Artikels äußerte sich in erster Linie als betroffener Vater. Ich nehme wahr, dass Begrifflichkeiten wie "Bildungskatastrophe" in den (sozialen) Medien immer häufiger kursieren und die Ängste von Eltern hinsichtlich der Auswirkungen auf die Bildungsbiografie ihrer Kinder befeuern. 

 

Wenig wird dagegen von Chancen gesprochen. Und hier möchte ich mich in meiner Mehrfachrolle als Mutter, Sozialpädagogin, Lehrerin, stellvertretende Schulleitung und Ansprechpartnerin für Digitalisierung äußern. 

 

Vorweggenommen ist mir wichtig zu sagen, dass ich die Schwierigkeiten dieser Zeit sehe und nichts schönreden möchte. Ich sehe, dass die Schere der Bildungsgleichheit auseinanderklafft, wenn zum Beispiel Kinder, deren Eltern arbeiten und eine Großfamilie versorgen müssen oder sich selbst schwer mit dem Schulstoff tun, weitgehend mit ihren Aufgaben alleine gelassen werden, während andere große Unterstützung bekommen. Ich sehe die Erst- und Zweitklässler, die nun zu Hause lesen, schreiben und rechnen lernen, während ihre Eltern gleichzeitig produktiv im Homeoffice arbeiten sollen. Mir ist bewusst, dass Präsenzunterricht und Klassengemeinschaft durch nichts zu ersetzen sind. 

 

Aber ...

 

... mir fällt auch so einiges ein, was sich auf der anderen Seite der Waage befindet. Alles, was ich mit diesem Artikel möchte ist, dafür zu sensibilisieren, dass es auch diese andere Seite gibt. Denn ich glaube, dass niemandem geholfen ist, wenn zu der ganzen Last von Homeschooling und Sorgen um Gesundheit und Bildung auch noch Hoffnungslosigkeit und Schwarzseherei kommen. 

 

Die andere seite der waage

 

Nicht ganz zu Unrecht wird der Institution Schule seit Jahren Unbeweglichkeit vorgeworfen. Neuerungen kommen verzögert an und sind dann nicht selten bereits überholt. Auch Digitalisierung ist schon seit Jahren Thema, ohne dass sich viel bewegt hätte.

Durch Corona und damit verbundenem Distanz- und Wechselunterricht wurden die Schulen plötzlich in die Realität katapultiert und mussten handeln. Ich bin der absoluten Überzeugung, wir hätten noch Jahre so vor uns hingedümpelt, bevor finanzielle Mittel für digitale Ausstattung (leider immer noch nicht optimal) bereitgestellt worden wären, bevor so manche Lehrkraft sich entsprechend fortgebildet hätte. Nicht jedem liegt ja Technik und wenn man nicht muss ...

Keine Frage: Auch in der jetzigen Situation wird es Lehrkräfte/Schulen geben, die hier engagierter sind und welche, die mehr tun könnten. Aber, sind wir mal ehrlich: Diese Unterschiede gab es schon immer, unabhängig von Präsenz- oder Distanzunterricht. 

 

Ich erlebe Schule gerade von zwei Seiten:

  • Wenn ich mich zu Unterrichtszeiten durch unser Haus bewege, schallt aus jedem Kinderzimmer eine andere Lehrerstimme. Videokonferenzen laufen. Über die Schulhomepage werden die Unterrichtsinhalte auch den Eltern transparent gemacht. Unsere jüngere Tochter wurde auch schon mal von ihrem Klassenlehrer angerufen, der sich bei jeder Familie meldete (Was für ein Schreck zunächst 😉). Immer sonntags gibt es den Stundenplan für die nächste Woche. Ich konnte verfolgen, wie sich die Schule während des ersten Lockdowns im letzten Frühjahr bis jetzt auf die Situation einstellte. Zunächst gab es Videokonferenzen nur bei den technikaffinen Mathe- und Informatiklehrern. Inzwischen sind alle dabei. Rückmeldungen von Eltern erwünscht. Es läuft ...
  • Meine Schule: Ich bin auch eine, deren Stimme bei Schülern durch das Haus schallt und die wöchentliche Stundenpläne und Informationen per Mail verschickt. Meine Kolleg/innen ziehen mit. Manche halten den ersten Unterricht per Videokonferenz wenige Monate vor ihrer Pensionierung. Den häufig gehörten Vorwurf, die Schulen hätten während des Sommers geschlafen, kann ich nicht bestätigen. Es wurden Leih-Laptops angeschafft und jede Menge Online-Fortbildungen zum digitalen Unterricht absolviert. Wir haben getagt und geplant. Es läuft ...

 

steuern wir auf eine bildungskatastrophe zu ?

Ich glaube nicht. Natürlich wird die Zeit des fehlenden Präsenzunterrichts nicht spurlos an den Schüler/innen vorbeigehen. Sie ist anders und sie vermittelt andere, vielleicht zusätzliche Kompetenzen:

  • Unsere Kinder lernen Selbstständigkeit. Anfangs sicher ungewohnt und hart, organisieren sie sich Schulstoff, teilen ihn sich ein, holen sich Hilfe ...
  • Sie werden fit für die (digitale) Zukunft. Lernen - je nach Alter - den Umgang mit Computer und Maus, das Erstellen von Berichten, die Verwendung digitaler Tools, die aktive Teilnahme an Videokonferenzen ...
  • Ihre Flexibilität wird gefördert, eine Kernkompetenz für das spätere Berufsleben. 
  • Unsere Kinder erleben, dass Erwachsene (Lehrer, Eltern) ihnen nicht unbedingt überlegen sind. Ich habe konkret erlebt, wie Schüler gemeinsam mit mir auf Fehlersuche gingen, als die Technik nicht wollte, und wie wir es als gleichberechtigtes Team gemeinsam geschafft haben. Das sind Erfolgserlebnisse für Schüler und Sternstunden für Lehrer. Glaubt mir!
  • Dabei erleben sich Kinder und Jugendliche als selbstwirksam (Ich habe mich jetzt da reingekniet und es dann ohne Hilfe hingekriegt), was das Selbstvertrauen puscht. 
  • Eines meiner Unterrichtsfächer ist Medienpädagogik. Ob man es gut findet oder nicht, digitale Medien gehören längst zu unserem Alltag, mit all ihren vielfältigen Chancen/Möglichkeiten und Gefahren. Das Wichtigste, was wir unseren Kindern vermitteln können, ist Medienkompetenz. Sie müssen nicht nur wissen, wie sie mit PC & Co umgehen, sondern auch Inhalte differenzieren (Stichwort Fake News) und verantwortlich mit sozialen Medien umgehen lernen. Im Moment absolvieren wir alle einen Intensivkurs in Medienpädagogik (Schüler, Lehrer und auch die Eltern). 
  • By the way: Es gibt nicht nur digitale Medien. Wir wissen, dass Lernstoff am besten aufgenommen und gespeichert wird, wenn er möglichst viele Sinne anspricht. Und so geht es auch um eine Verzahnung von digitaler und analoger Bildung. Auch das gute alte Buch ist ein Medium. Und wo Distanzunterricht/Homeschooling gut läuft, wird beides eingesetzt.
  • Ich halte es für wichtig, dass unsere Kinder für ihr späteres Berufsleben jetzt hautnah mitbekommen, dass man nicht für jedes Meeting ins Büro fahren oder in eine andere Stadt/ein anderes Land fliegen muss. Die Arbeitnehmer und Arbeitgeber von morgen ziehen im Optimalfall Schlüsse aus dieser Zeit, die unserer stark gebeutelten Umwelt zu Gute kommen. Weniger CO2-Ausstoß ist nötig, weniger Staus auf den Autobahnen, wenn sich nicht jeder jeden Morgen alleine im Auto auf den Weg ins Büro machen muss. Weniger Kerosin, weniger Fluglärm, wenn nicht täglich Unmengen an Geschäftsleuten zu Meetings fliegen würden. 
  • Da wären wir wieder bei Flexibilität. Und Work-Life-Balance. Entschleunigung. Vertrauen auf Arbeitgeberseite, dass Angestellte im Homeoffice nicht auf der faulen Haut liegen (momentan fehlt das ja leider noch an vielen Stellen).

 

 

welche fragen stellen sich jetzt ?

Für mich ist gar nicht so sehr die Frage: Wie groß ist die Bildungskatastrophe?, sondern: Gibt es vielleicht auch andere Auswirkungen? Nehmen wir diese wahr und greifen wir die positiven Aspekte dieser besonderen Zeit auch nach der Pandemie auf und entwickeln sie weiter?

 

Nochmal: Ich will nichts schön reden. Ich sehe die Herausforderungen und Schwierigkeiten. Niemand hat sich diese Pandemie herbei gewünscht, die ohne Frage ihre Kosten haben wird. 

Ich wollte einfach mal in den Raum stellen, dass auch etwas Positives in dieser Krise verborgen liegen kann. Und dass ich mir sehr wünsche, dieser Aspekt würde ebenfalls wahrgenommen.

 

 

 

Wenn ihr jetzt ein kleines Licht am Ende des Tunnels seht, ein bisschen mehr Vertrauen bekommen habt, dass eure Kinder auch in dieser Zeit fürs Leben lernen, teilt diesen Artikel gerne. Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit!

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Kommentare: 2
  • #1

    Rosi (Freitag, 15 Januar 2021 16:14)

    Super Beitrag!
    Dieses ungewollte moderne Lernen ist ein großer Schritt für die Ausbildung und flexiblen Arbeitsleben im 21.Jhd.

  • #2

    Annette (Samstag, 16 Januar 2021 16:16)

    ....ich danke dir dolle, dass du es in so klare worte fasst, dass die medaille immer zwei seiten hat...oder sogar noch so viel mehr....für mich kommt auch dazu, dass ich es schön und bereichernd finde so viel von meinem kind mitzubekommen und es selbst beschulen zu dürfen....mit ihm zusammen zu lernen und von ihm zu lernen.....
    herzlichst
    annette