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Mein grünes Wunder

 

Letzte Woche hast du hier etwas über Anne-Maria Apelts "grüne Wunder" gelesen. Heute möchte ich dir von meiner eigenen kleinen Auszeit in der Natur erzählen. Aber zuerst einmal Fahrrad-Spam. Sorry, das muss sein. Seit meiner Knie-Arthrose-Diagnose vor ein paar Jahren beschäftigt mich der Gedanke an ein E-Bike. Die Empfehlung des Orthopäden lautete: Rad fahren, aber ohne Widerstand. Witzig, wo es hier in jede Richtung bergauf geht. Die Anschaffungskosten und das Gefühl, mit einem E-Bike endgültig zum alten Eisen zu gehören, hielten mich ziemlich lange ab. Vor zwei Wochen habe ich mich überwunden (Wer kann einem so schönen Rad schon widerstehen?) und ich kann dir jetzt schon sagen: Es ist eine der besten Anschaffungen ever. Wir wohnen hier so wunderschön. Ein paar Kilometer weiter warten schnuckelige Fachwerkhäuser, Weiher und die fränkische Schweiz darauf, entdeckt zu werden. Und gestern habe ich Sommerferien und Fahrrad genutzt, mir endlich eine kleine Auszeit in der Natur zu nehmen. An einem meiner Lieblingsorte, ungefähr sieben Kilometer von zu Hause entfernt. Zwischen der schönen, alten Beerbacher Kirche und sich scheinbar endlos erstreckenden Feldern liegt die Nikolausquelle in einem kleinen Waldstück. Idylle, wohin das Auge blickt. Die Ohren hören Blätter rauschen, das Gurgeln der Quelle und ab und zu die nahen Kirchenglocken. Genau der richtige Ort für mein Vorhaben. 

 

 

Im Gepäck hatte ich Anne-Marias Kartenset "Grüne Wunder erleben", eine Trinkflasche zum Auffüllen an der Wasserquelle und etwas zu schreiben. Die Kartenbox beinhaltet vier Anleitungen für Naturrituale, die in eine meditative Auszeit führen. Ich hatte mich spontan für "Verantwortung" entschieden. Dieses vielfältige Thema treibt mich in letzter Zeit um: Verantwortung für meinen Körper, meine Familie, die Umwelt, berufliche und persönliche Fragestellungen. Wo sehe ich mich in ein paar Jahren? Welche Weichen werden jetzt gestellt und welche Schritte will ich gehen?

 

 

Die Quelle mündet in ein kleines Bächlein, eher ein Rinnsal. Hier und da gibt es kleine Übergänge aus Ästen und Steinen. Eine davon wurde meine Schwelle. Ich legte das Fahrrad auf den Boden, nahm meine sieben Sachen und ging über die Schwelle, um mir meinen Platz in der Natur zu suchen. Es war ein Baum, an den ich mich lehnte. Auf einer kleinen Anhöhe mit Blick auf die Quelle und viel Wald. Hier saß ich erstmal für einige Minuten und machte gar nichts. Wind war aufgekommen und fuhr durch die Bäume und mein Haar. Herrlicher, erfrischender Wind. Fast wie am Meer, wo ich so gerne bin. 

 

Aus allem, was ich so um mich herum fand, baute ich drei Behältnisse. In das erste kamen Stöckchen als Symbol für das, was ich in meinem Leben bereits verwirklicht habe, worauf ich stolz bin. Das war nicht schwer. Meine Familie, unser Zuhause, meine Arbeit und mein Buch bekamen ihren Platz.

 

Das nächste Nest füllte sich mit drei Steinen. Zeichen für das, was ich bisher nicht eingelöst habe und was sich wohl auch nicht mehr erfüllen wird. Eigenartig, diese Steine zu betrachten und bewusst Abschied zu nehmen von Wünschen und Hoffnungen. Irgendwie aber auch befreiend. Es muss nicht. Es geht auch ohne. 

 

In das dritte Behältnis kamen schließlich Blätter als Symbol für alles, was noch nicht ist, aber noch werden kann. Die unterschiedliche Betrachtung von Steinen und Blättern war Neuland für mich. Fast ein Aha-Erlebnis. Ja, es gibt diese Dinge, die ich loslassen sollte. Aber da sind auch einige, an denen ich arbeiten kann und will. Die im Bereich meiner Möglichkeiten liegen. Mein Potential. 

 

 

Welches dieser Blätter ist als nächstes dran? Und welche Schritte werde ich dafür gehen? Im Sinne des Rituals sollte die Natur mein Wegweiser sein. 

Ich kenne Pro-und-Contra-Listen und die Bewertungsmatrix als Entscheidungshilfen. Jetzt hielt ich also nach Zeichen in der Natur Ausschau. Eine für mein kognitives Wesen eher ungewöhnliche Herangehensweise. Aber genau das wollte ich ja haben. Neuland betreten. Meine Grenzen weiten. Also suchte ich Wegweiser. Ließ meine Blicke wandern, meine Finger ertasten, meine Ohren lauschen. 

 

Und fand.

 

Nicht so, wie ich es erwartet hatte. Kein göttliches Zeichen mit Fünf-Schritte-Plan. 

 

Anders.

 

Ich umarmte den Baum, der mir als Lehne gedient hatte (Ja, ich weiß: Baum umarmen, das alte Klischee. Aber es hat was. Probier ´ s aus).  Spürte die harte, kratzige Rinde, die zugleich erstaunlich weich war. Meine Finger entdeckten Moos am Fuße des Baums. Frisches, grünes Moos. Weich, wie Samt, strahlte es Geborgenheit und Fürsorglichkeit aus. Wie alle anderen Bäume auch, bewegte sich "mein Baum" im Wind, flexibel, ohne den Halt zu verlieren. Seine Wurzeln bohren sich tief und weit in die Erde, während die Krone sich dem Himmel entgegenstreckt. An der Rinde fand ich Verletzungen.  

 

 

Und dann, beim Umwandern des Baumes, die größte Entdeckung. "Mein Baum" ist zwei Bäume. Von hinten betrachtet, sieht man es ganz deutlich. Ein kleiner, schmaler Baum schmiegt sich an den großen, kräftigen und wächst gemeinsam mit ihm der Sonne entgegen. Ein Schmarotzer? Nein, es macht nicht den Eindruck, als stört sich "mein Baum" an seinem kleinen Gefährten. Je höher sie gemeinsam wachsen, desto mehr scheinen sie eins zu sein. 

 

Verschiedene Gedanken machen sich in meinem Kopf breit.

 

Da ist einmal das Bild des Mentors. Jemand, der mir Schutz und Halt gibt, mir hilft, mich zu entfalten. Jemand, an den ich mich anlehnen und dem ich vorbehaltlos vertrauen kann. Weil er mir nichts Böses will. Im Gegenteil. Er hilft mir wachsen. Er schenkt mir die Stabilität und den Rückhalt, den ich dafür brauche, groß zu werden. Wer wünscht sich nicht einen solchen Mentor? Jemanden, der keine Angst vor Schmarotzern hat. Der seinen Erfahrungsreichtum gerne teilt und kein Problem damit hat, dem Anderen beim Großwerden behilflich zu sein. In welchen Bereichen brauche ich einen solchen Mentor und wo finde ich ihn? Kann ich vielleicht selbst für jemanden zum starken Baum, zur Stütze werden?

 

Das andere Bild betrifft Gott. Ist mir nicht mein Glaube ein solcher Baum? Kann ich mich nicht immer wieder vertrauensvoll anlehnen, wenn ich kraftlos oder ratlos bin? Die Bibel ist voll von Gottesbildern: eine starke Burg, ein Fels, ein Vogel, unter dessen Fittichen ich mich bergen kann. Warum nicht ein starker Baum?

 

 

Erfüllt und doch auch voller Fragen will ich mich auf den Rückweg machen. Noch einen Abstecher in die Kirche und selbstgemachte Marmelade auf dem Kirchenhof kaufen. Schon im Gehen wende ich mich zurück und mache die zweite Entdeckung. Das Behältnis aus Hölzern und Moos, das ich für meine "Blätter der Möglichkeiten" gebaut habe, ist von der anderen Seite aus gesehen ein Haus. Es ist so offensichtlich, aber es war mir nicht aufgefallen. Ein wunderbares kleines Haus - auf sicherem Grund gebaut und mit einem schützenden Dach, gemütlich und einladend - birgt mein Potenzial, meine Möglichkeiten, die Verheißungen, die noch vor mir liegen. 

 

Ich mache mich auf den Weg zur Kirche. Erfüllt, voller Fragen nach Deutungen und beseelt. 

 

 

In der kleinen, heimeligen Kirche setze ich mich auf eine der Bänke und bitte Gott um Weisheit, das Erlebte zu verstehen. Beim Öffnen meiner Augen, fällt mein Blick auf die Schnitzereien in der Kanzel. Sie passt so gar nicht in die Idylle der spätgotischen Kirche und wurde erst in den 60er Jahren ergänzt. Normalerweise würde ich mich daran stören, heute jedoch sprechen mich die Bilder an. Zu sehen sind ein Gebender und ein Nehmender. Letzterer empfängt Speise, Trank, Mantel und Stab. In meinen Augen wird er für eine Aufgabe ausgerüstet. Er bekommt alles, was er braucht. Mir fällt die Haltung des Nehmenden auf. Sie ist demütig. Es arbeitet in meinem Kopf und ich erahne Puzzlestücke einer Antwort auf die Fragen, die mich im Gebet bewegt haben. 

 

 

Leise verlasse ich die Kirche. Licht und Wärme empfangen mich. Ich stelle die mitgebrachten, leeren Gläser ab und fülle meinen Fahrradkorb mit neuer Erdbeermarmelade. Dann mache ich mich auf den Rückweg nach Hause. Ich werde wiederkommen. 

 

Solltest du in der Nähe wohnen oder zufälligerweise mal vorbeikommen: St. Egidien und die Nikolausquelle sind einen Abstecher wert. 

 

Hier kannst du mehr lesen: "Wo Engel das Baumaterial getragen haben sollen"

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Annette (Sonntag, 02 August 2020 14:36)

    ...ich danke dir ganz dolle fürs dran teilhabne lassen und die vielen wunderschönen bilder....
    herzlichst
    annette